Wie junge Sportler mit psychischen Belastungen umgehen können, erzählen Tischtennis-Spielerin Annett Kaufmann aus Bietigheim-Bissingen und Psychologin Johanna Kaiser.
Beitrag aus der Stuttgarter Zeitung vom 21.11.2024 von Nina Ayerle
BIETIGHEIM/ LEIPZIG Ihre Tischtennis-Karriere hat einfach angefangen: Mit Bälle aufsammeln. Mit vier Jahren war Annett Kaufmann bereits dabei, wenn ihre ältere Schwester Alexandra Tischtennis spielte. Ihre Schwester hatte schon Pokale gewonnen, und das weckte ihren Ehrgeiz, sagt die heute 18-Jährige aus Bietigheim-Bissingen. Seit 14 Jahren spielt sie selbst Tischtennis. Pokale hat sie inzwischen einige gesammelt. Im Juni wurde sie Deutsche Meisterin, sie war auch Team-Europameisterin mit Deutschlands Damen, U21-Europameisterin im Einzel und dreifache U15-Europameisterin.
Die große Überraschung in der Tischtennis-Welt war sie bei den Olympischen Spielen in Paris dieses Jahr. Aufgrund von Krankheitsfällen im deutschen Team rückte sie als Ersatzspielerin nach – und führte mit fünf Siegen ihr Team souverän ins Halbfinale. Sie schlug sogar die Nummer sieben der Weltrangliste, die 16-jährige Miwa Harimoto aus Japan. Seitdem gilt sie vielen als mögliche Nachfolgerin der deutschen Tischtennis-Legende Timo Boll.
Wie geht man damit um, wenn man auf einmal als die große Hoffnung gilt? Nach Olympia gönnte sich Hoffmann erst mal drei Wochen Urlaub. An einem Freitagabend Ende September hat sie endlich Zeit für ein Gespräch. Sie ist gerade von einem Lehrgang in Düsseldorf zurückgekommen, zwei Tage später geht es schon wieder weiter nach China. Trotzdem ist sie entspannt. Zu ihrer erfolgreichen Olympia-Teilnahme sagt sie bescheiden: „Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich ein Teil davon war.“ Dabei hat sie nicht nur die entscheidenden Siege im Einzel geholt, sondern war auch die mentale Stütze für ihr Team. Nach dem Ausscheiden tröstete sie vor den Augen der Sportwelt liebevoll ihre Teamkolleginnen.
Bis vor kurzem hat sie den Sport fast noch als Hobby betrachtet. Im Juni hat sie ihr Abitur gemacht, ab jetzt will sie sich nur aufs Tischtennisspielen konzentrieren. Ein gutes Abitur davor war ihr aber wichtig. „Im Sport weiß man nie, was kommt. Es ist gut, einen Plan B zu haben“, sagt Annett Kaufmann. Eine Ausbildung bei der Kriminalpolizei könne sie sich gut vorstellen.
Das letzte Jahr war anstrengend für sie.Bundesliga, viele Turniere und gleichzeitig die Vorbereitung aufs Abi. „Da bin ich täglich an meine Grenzen gekommen“, sagt Kaufmann. Manchmal sei „das ein oder andere Tränchen“ geflossen. Sie selbst beschreibt sich als sehr ehrgeizig und ambitioniert: „Ich will in jedem Bereich gut sein.“
Neben ihrem Talent und ihrer Disziplin hat sie etwas, das es braucht, um im Leistungssport weit zu kommen: Selbstbewusstsein. Und ja, auch eine gewisse Opferbereitschaft. Oft habe sie Nachtschichten eingelegt, um neben den Turnieren noch fürs Abitur zu lernen. „Ich hätte nicht schlafen können, wenn ich nicht alles gewusst hätte.“
Viele junge Leistungssportler seien für ihr Alter sehr selbstständig und äußerst diszipliniert, sagt Johanna Kaiser. Sie war Profi-Fußballspielerin, hat nebenbei Psychologie studiert und ist nun wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig. Auch dort widmet sich die 28-Jährige ihrer Leidenschaft, dem Leistungssport. Neben ihrer Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin arbeitet sie mit jungen Sportlern und schreibt ihre Doktorarbeit zu diesem Thema.
Die Belastung im Nachwuchssport sei riesig, Forschung und gezielte Unterstützungsangebote gebe es aber bisher kaum, sagt Kaiser. Es sei von Sportart zu Sportart und von Verein zu Verein unterschiedlich. Viele junge Sportler erleben starke psychische Beanspruchungen, so ihre Erfahrung aus der Hochschulambulanz in Leipzig. Dort betreut Kaiser das Projekt „Lifenet“, dessen Schwerpunkt darin liegt, die psychische Gesundheit von jungen Elitesportlern zu fördern.
Kaiser wünscht sich, dass der mentale Aspekt im Sport stärker berücksichtigt wird – und zwar präventiv. Dazu bräuchte es ein Umdenken bei vielen Vereinen und Verbänden. Die Stärkung der Psyche, gesunde Ernährung und ein gutes Schlafverhalten werden oft vernachlässigt. Auch weil im Leistungssport eine psychische Krankheit eher als Schwäche angesehen werde. „Der Gedanke, dass man stark sein muss, ist sehr zementiert“, sagt Kaiser. Viele suchen sich erst Hilfe, wenn sie über eine längere Zeit an Symptomen wie Interessen- und Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Appetit- und Gewichtsproblemen oder Schuldgefühlen leiden.
Sie berät viele Jugendliche mit mittelschwerer Depression. „Einige sind sich trotz ihres starken Leidensdrucks unsicher, ob es ihnen schlecht genug geht für eine Behandlung“, sagt Kaiser. Deshalb findet sie es gut, wenn aktive Sportlerinnen wie die amerikanische Turnerin Simone Biles offen über ihre psychischen Probleme sprechen.
Meist seien es ehemalige Sportler, die sich trauten, über die Belastungen während ihrer Karriere öffentlich zu sprechen – wie die Schwimmer Michael Phelps und Britta Steffen. „Aber das muss noch viel mehr zu den Jugendlichen durchdringen, sodass Unterstützungsangebote frühzeitig in Anspruch genommen werden und das Bewusstsein für die psychischen Beanspruchungen im Leistungssport steigt“, sagt Kaiser.
Sie betont, dass es nicht der Profisport an sich sei, der psychische Erkrankungen auslöse. Es existierten dort aber Risikofaktoren wie der permanente Erfolgsdruck und ein starkes Machtgefälle zwischen Trainern und Vereinen einerseits und den Sportlern andererseits. Aber wer gute Ressourcen habe, der könne auch psychisch gesund durch den Leistungssport kommen.
Auch gehört es im Leistungssport dazu, dass man an einem Tag gefeiert und am nächsten Tag ausgebuht wird. Wie schnell das gehen kann, hat Annett Kaufmann erlebt, als sie im Oktober bei den Europameisterschaften in Linz im Einzel an Bernadette Szócs aus Rumänien scheiterte.
Im Mixed gewann sie zwar Bronze, trotzdem hieß es in einigen Berichten, es sei ein „bitterer Tag“ für Kaufmann. Bisher gelingt es Kaufmann, solche Kritik zu ignorieren. „Ich versuche genau das Gegenteil zu machen und mich auf das Positive zu konzentrieren“, sagt Kaufmann. Ihr sei bewusst, dass ihre eigene Entwicklung niemals linear verlaufen werde. „Also insgesamt stört mich die Medienkritik nicht, einfach aus dem Grund, weil ich ihr in meinem Kopf keine Relevanz einräume“, sagt Kaufmann.
Bei den Olympischen Spielen in Paris ist sie vor allem durch ihre mentale Stärke aufgefallen. Wie sie es geschafft hat, psychisch so stark zu bleiben? „Gute Frage, nächste Frage“, sagt sie dazu und lacht. „Aber ich bin vom Charakter her so, dass ich mir immer sage, ich schaffe das.“ Bei Olympia sei sie zudem der „Underdog“ gewesen, sie habe nichts zu verlieren gehabt.
Außerdem ist Kaufmann in einer Sportlerfamilie aufgewachsen. Ihr Vater war Eishockey-Profi, ihre Mutter startete im alpinen Ski-Weltcup. Bisher habe sie die Schattenseiten des Leistungssports kaum erlebt. Sie kennt das Klischee, dass Eltern Druck machen, nur vom Hörensagen. „Da lässt es sich einfacher leben“, sagt Kaufmann.